Was ist Stichometrie?
Stichos (στίχος, Zeile) ist das antike Zeilenmaß für Prosatexte:
- In griechischen Texten hat ein Stichos ursprünglich 15 Silben.
- Spätantik sind 16 Silben belegt, wie schon im Lateinischen für den versus.
- Der Stichos entspricht damit dem durchschnittlichen Hexameter.
Stichometrie („Messen der Zeilen“) begegnet in antiken Texten an drei Stellen:
- in der Subskription am Buchende: Angabe der Zeilensumme = Totalstichometrie (148 kB);
- innerhalb eines Texts (z. B. bibliographische Notizen, Kanonlisten (148 kB)): ebenfalls Zeilensumme;
- neben den Kolumnen: Randziffern bei jedem 100. Stichos = Marginalstichometrie.
Älteste Belege für diese drei Arten von Stichometrie in antiken und in biblischen Texten:
- Rollen aus Herculaneum (vor 79 n.Chr.) bzw. Papyrus 46 zu den Paulusbriefen (um 200);
- Bibliotheksverzeichnis des Kallimachos (3. Jh. v.Chr.) bzw. frühe Kanonlisten (148 kB) (4. Jh.);
- Papyrus-Funde zu Homer (3. Jh. v.Chr.) bzw. Codex B/Vaticanus zu 1–4Kön und Jes (4. Jh.).
Funktion im Blick auf die Edition von Büchern (schon seit Ende 19. Jh. erkannt):
- im Verlagswesen: Grundlage für die Kalkulation von Schreiberlohn und Buchpreis;
- im Bibliothekswesen: Angabe des originalen Buchumfangs im Bücherkatalog;
- im Lehrbetrieb: Lesehilfe zum Auffinden einzelner Belegstellen.
Antike Autoren verwenden ebenfalls das Stichos-Maß (wie eindeutig zu belegen ist):
-
Im Rhetorikunterricht wird ein angemessener Zeilenumfang empfohlen (Menander Rhetor[1]),
z. B. für Abschiedsreden max. 200–300 Stichoi, für Trauerreden max. 150 Stichoi. - Eine Wachstafel in Stichos-Breite hilft beim Abmessen des Umfangs (Quintilian[2]).
- Mit der Disposition wird über Format und Zahl der Buchrollen entschieden (Josephus[3]).
Auch auf die Proportionen haben die Autoren geachtet, nicht nur in Poesie, sondern auch in Prosa:
-
Nach Vitruv[4] hat man in der Pythagoras-Schule die Lehrgedichte nach Verszahlen disponiert:
man habe die Kubikzahl 216 (= 6x6x6) verwendet und als maximalen Umfang 3x216 festgelegt. -
Horaz hat seine Ars poetica mithilfe alter Näherungswerte des Goldenen Schnitts gegliedert:
von den 476 = 14x34 versūs behandeln 294 = 14x21 das Gedicht, 182 = 14x13 den Dichter. -
Auch für Platon, Isokrates, Sallust und Lukian sind entsprechende Proportionen nachgewiesen,
aber bisher nur aufgrund der Zeilen moderner Textausgaben, nicht aufgrund einer stichoi-Zählung.
Weitere Informationen
- Schreiben nach Maß. Zur Stichometrie in der antiken Literatur. (368 kB)
- Stichometry as a Useful Tool in Reconstructing the Original Dispositions. (9,6 MB)
-
↑
Menandros Rhetor (3. Jh. n. Chr.), IX 14, zur Abschiedsrede:
(Wenn du als einziger Redner vorgesehen bist,) „sollst du die Abschiedsrede schriftlich vorbereiten, mit bis zu 200 Stichoi oder 300, wenn du willst, und kein Wohlgesonnener wird dich tadeln“ (… προάξεις τὴν συντακτικὴν συγγραφικῶς καὶ ἄχρι διακοσίων στίχων ἢ τριακοσίων, εἰ βουληθείης, καὶ οὐδείς σοι μέμψεται εὖ φρονῶν); aus: Περὶ ἐπιδεικτικῶν (ed. Bursian, ABAW 16/3, 1882, 118). -
↑
Quintilianus (1. Jh. n. Chr.), Institutio X 3,32:
„Ich möchte nicht, dass die Wachstafeln unmäßig breit sind, seitdem ich erlebt habe, wie einem ansonsten lernbegierigen jungen Mann die Texte zu lang gerieten, weil er sie nach der Zeilenzahl bemaß (quia illos numero versuum metiebatur), und wie dieser Fehler … durch andere (schmälere) Tafeln beseitigt wurde.“ -
↑
Josephus (1. Jh. n. Chr.), Antiquitates XX 267:
„Damit beende ich die ‚Altertümer‘, die in 20 Büchern veröffentlicht sind, mit 60.000 Stichoi“
(… τὴν ἀρχαιολογίαν βιβλίοις μὲν εἴκοσι περιειλημμένην, ἓξ δὲ μυριάσι στίχων). -
↑
Vitruvius (1. Jh. v. Chr.), Architectura 5.preface.3 (Übersetzung C. Fensterbusch, 1981):
„Pythagoras und seine Schüler hielten es für richtig, in ihren Büchern ihre Lehre in kubischen Verhältnissen zu schreiben (cybicis rationibus praecepta in voluminibus scribere). Sie setzten den Kubus auf 216 Zeilen fest und glaubten, dass nicht mehr als 3 dieser Kubus in einem Schriftwerk enthalten sein dürften“ (constitueruntque cybum CCXVI versus eosque non plus tres in una conscriptione oportere esse putaverunt).